titus lerner

 

©Georg Pieron

Das Auge, so lehrt uns Plato, ist der Spiegel der Seele. Gerade in der Kunst sollte diese Metapher uns besonders ansprechen, denn sie trägt uns an den Ort des Blickens. Der Augenblick, der stechende Blick der Figuren, der Blick des Panthers hinter den Stäben: das alles macht den Kunstsinn aus. Wie sollte man denn auch anders in der heutigen Zeit sehen lernen, wenn nicht geführt vom Künstler, dessen Wunsch, der Weltarmut und Seelenlosigkeit zu entrinnen, sich dem zuwendet, was uns anblickt. So wird er auch auf eine gewisse Weise zum Historiker. Sein Blick durchschreitet den Raum und die Zeit, saugt und nagt an dem, was zeitlos, geschichtslos und geschichtenlos an uns vorbeieilen möchte.

Titus Lerners Menschen blicken in die Welt und lassen durch ihren Einblick eine Sage aus alten Zeiten in sie strömen. Sprechblick. Sie appellieren an unser Einfühlungsvermögen, wollen die Begegnung, damit auch wir, die Zuschauer und Betrachter, Zeugen ihres Lebens werden. Jenseits aller Kommunikationstechniken ruhen sie im vielsagenden Blicken. Vielschichtig, grob, aber immer tastend erobern sie den Zeitraum des Betrachters, entheben ihn der Enge der eigenen Wahrnehmungen. Zeitschichten ergeben sich daraus, Geschichte wird Gegenwart: Ratsuchende Augen, auch die Bitte, teilzunehmen am Erlebten, dem Unsagbaren, das nach Ausdruck lechzt. Wohin? Wozu? Teleologische Linien durchziehen das Werk, versuchen das Mensch-Tier, von dem Nietzsche sagt, dass es noch nicht festgestellt sei, zu ergründen, ihm eine Richtung zu geben, es zu befrieden. Es ist nicht reiner Expressionismus, der leichten Schrittes sich vom Innen zum Außen bewegt. Nein, es sind Blicke, die auch wieder ins Kunstwerk zurückwollen, in seine durchdachte Ruhe, in die Kreativität, den Ort der menschlichen Freiheit.

Doch die Freiheit, deren Intuition dem Künstler eigen ist, lässt sich nicht in ein klares Weltbild projizieren. Sind wir nicht Zeichen, deutungslose? Die Themen führen in eine Welt der sprechenden Farben, geben dem Betrachter das Wort. Wohin geht dein bleierner, entblößter Blick, du farbiger Palettenmensch mit erhobenem Zeigefinger? Du, Rötling, wessen Fähnchen schwingst du? Nach welchem Wahlspruch dürstet dich? Gib acht, du hautfarbenes Kauerwesen. Siehst du dem Ethnologen ins Auge, der dich, halb Affe, halb Mensch, erfasst und einordnet in eine Spezies? Das Bild vom Menschen bröselt, seitdem er Gott aus seinen Hallen entlassen hat. Ist es nicht das Echo der unendlichen Weltenräume, das uns aufhorchen lässt? Wie willst du auch sonst deinen Standort markieren? Schamhafte, beschämte Ungelenkheit. Dir ist der Sinn für die Grenzen abhanden gekommen aus Angst Grenze sei ein Verlust. Könnte die Bläue des Geometerfähnchens dir gar in die Brust eindringen und dich dir selbst enteignen? Kann sich der Mensch selbst besitzen? Und du, rosig-rotes Etwas, noch Homunkulus oder schon Menschgewordenes ? Ungestalt, doch schreitend. Deine Würde wächst dir zu aus der Bewegung deiner Beine. Deine Gliedmaßen geben den Takt an. Bist du nicht auch Benjamins Engel der Geschichte, den der Sturm blindlings treibt? Halbverstehender, was ist dein Maß? Die Masken, Menschenhüllen, Menschenhalden dringen vorwärts, streben, solange sie leben. Doch, nicht zuletzt, der Trost : wir sind alle im blauen Boot, das Meer ist in uns : hier liegt die Tragik, hier liegt aber das Rettende auch. Anthropomorphe Landschaften, aber auch Erdmenschen, Wassermenschen, blaue Kobolde. Der Mensch ist ein Ort der Sammlung. In ihm vereint sich Welt und Geschichte, Raum und Zeit. Titus Lerner ist der Sammler. Nicht derjenige, der etablierte Werte hortet, sondern der, dem es gelingt, Menschen und ihre Geschichten aus der Tiefe der Verletztheit zu heben, sie uns von Angesicht zu Angesicht zu zeigen. Es gilt, wieder zu trennen, Unterschiede hervorzubringen, die feinen Unterschiede. In der Differenz liegt das Wesen. Es lauert das Amalgam, das unzertrennlich Zusammengeschweißte. Die Verhärtung der Herzen und Seelen ist das eigentliche Gefängnis, denn sie schafft die Gedankenhülsen und vernachlässigt das Denken. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Titus Lerner ist Archäologe, er gräbt den Menschen frei, zaubert das Archaische herbei.

Dr. Ingeburg Lachaussee